Donnerstag, 9. August 2012

Panik statt Politik?

Im gestrigen Leitartikel (09.08.) der Zeit fordert Bernd Ulrich einen neuen Modus der europäischen Politik: Man solle jetzt nicht ad hoc große Entwürfe zur Zukunkft Europas vorlegen, sondern den Prozess inkrementell und damit flexibel gegenüber Fehlern vorantreiben.
Aus Ulrichs Sicht gebietet sich diese Vorgehensweise, da man Europa nur lernen, aber den Bürgern nicht per Doktrin verordnen kann.

Seinen theoretischen Opponenten wirft Ulrich vor, durch die Idee der finalité, d.h. der endgültigen Lösung der Krise durch ein umfassendes Zukunfts-Projekt, ein weiteres politisches Ziel zu etablieren, das weder notwendig noch hinreichend zur Bewältigung der aktuellen Situation sei.

Man mag von der finalité und dem damit verbundenen Vorschlag der Professoren Habermas, Nida-Rümelin und Bofinger halten, was man möchte, aber letztendlich macht er auf ein Defizit aufmerksam, das auch Ulrich mit seinem "pädagogischen" Ansatz nicht wegschreiben kann: So lange nicht klar ist, wie es mit der EU weitergeht, besteht auch keine Klarheit darüber, wie die Wertentwicklung von (süd-)europäischen Staatsanleihen aussehen könnte. Folglich werden die Märkte nicht wissen, wie mit diesen Papieren zu verfahren ist, weshalb das Chaos andauern wird.

Im Gegensatz dazu geht Ulrich davon aus, dass eine Einigung auf eine Zielperspektive die Dissonanzen nur noch vergrößern würde, da man nicht mehr nur über die Lösung der Krise, sondern zusätzlich auch über die Zukunft  des Kontinents übereinkommen müsste.
Ulrich bringt hier jedoch kein Argument gegen die allgemein vertretene Auffassung, dass beide Ziele einander bedingen und gar nicht "ungleichzeitig" behandelt werden können.

Was spricht nach Ulrich also gegen diese einheitliche Lösung? Sein "pädagogischer" Ansatz richtet sich grundlegend gegen die Kommentare Mario Monits, der sich als nicht-gewählter Regierungschef ua. zu der Bemerkung verleiten ließ, dass es sich doch ohne die Mitbestimmung der Parlamente viel leichter regieren ließe.
Natürlich, so kann die europäische Integration nicht aussehen. Ulrich schlägt im Gegensatz dazu vor, die Mündigkeit der Bürger und damit auch die infinalité des Zusammenwachsens stärker zu betonen. Man darf diesen Prozess von Seiten der Politik nicht  a priori durch große Enwürfe determinieren, denn das behindere den Lernprozess der Bürger.

Wenn Ulrich hier jedoch die Analogie des Lernens bemüht, sollte er sich im Klaren darüber sein, dass dieses nicht im luftleeren Raum stattfinden kann. Der Rahmen solcher Prozesse wird meist von außen gesetzt, so z.B. durch Eltern oder Lehrkräfte. Sogar bei selbstorganisiertem Lernen, wie es Ulrich hier vorschwebt, werden die Ziele extern vorgegeben und nur der Lernprozess selbst unterliegt der Kontrolle des Lernenden.
Kurz gesagt: Auch wenn wir als mündige Bürger den Weg zur europäischen Integration und zur Lösung der Schuldenkrise selbst bestimmen sollen, brauchen wir dafür einen Rahmen, in dem diese Entwicklung voranschreiten kann, und vor allem brauchen wir ein Ziel, auf das wir zusteuern. Ohne diese beiden Grundbedingungen kann auch selbstorganisiertes Lernen nicht funktionieren; und damit wären wir wieder am Anfang der Diskussion, nämlich der Frage, wie dieses Ziel aussehen soll.

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